Mythos "aggressiver Patient"
- AHK
- vor 1 Tag
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In Krankenhäusern und medizinischen Einrichtungen ist eine Aussage so alltäglich geworden, dass sie selten hinterfragt wird: „Die Patienten werden immer aggressiver.“ Wer so etwas hört, hat schnell ein vorgefertigtes Bild im Kopf und zwar von aufbrausenden und unkooperativen Menschen, die Ärzte und Pflegepersonal bedrohen. Was in Aussagen über so genannte „aggressive Patienten“ jedoch häufig nicht thematisiert wird, ist der Kontext der Geschehnisse: Aggressives Verhalten entsteht in der Regel nämlich nicht aus dem Nichts, sondern ist eine Reaktion auf Versäumnisse, Vernachlässigungen oder Demütigungen durch das Personal.

Aggressives Verhalten ist selten eine „böse Absicht“. Vor allem in Notaufnahmen, Psychiatrien oder bei pflegebedürftigen älteren Menschen entstehen Aggressionen meist dort, wo Bedürfnisse ignoriert werden. Konkret sprechen wir hier beispielsweise von langen Wartezeiten, Schmerzen, fehlender Privatsphäre oder dem Gefühl der Bevormundung. Jeder, der selbst schon einmal in der Notaufnahme saß und mit starken Schmerzen gefühlt ewig warten und währenddessen auch noch etliche Formulare ausfüllen musste, weiß, wie sehr das an die Substanz gehen kann. Wenn dann auch noch das Personal unfreundlich oder herablassend wird – vielleicht sogar seinen Job nicht ordentlich macht – kann das durchaus aggressives Verhalten bei Patienten provozieren.
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Wer mit Menschen spricht, die anderen vorwerfen, aggressiv zu sein, erlebt schnell eines: Die Zuschreibung als aggressiv ist eine sehr subjektive. Während manche eine Person, die ihre Stimme erhebt, schon als aggressiv empfinden, erleben andere eine Person erst dann als aggressiv, wenn sie Drohungen ausspricht oder körperlich übergriffig wird. „Das ist wie überall in der Gesellschaft. Der eine ruft die Polizei, wenn ein Fremder für fünf Sekunden mit dem Auto auf seinem Grundstück wendet und der andere ruft die Polizei, wenn ein Einbrecher im Haus ist. Empfindungen sind subjektiv. Es ist schon wichtig, dass man Grenzen setzt, aber das gilt für beide Parteien. Man muss sich auch als Patient nicht alles gefallen lassen“, so Melanie S. (Name von der Redaktion geändert).
Melanie S. beschäftigt sich schon länger mit dem Mythos „aggressiver Patient“. Als sie vor vier Jahren schwer erkrankte, erlebte sie hautnah, wie übergriffig das Personal in Krankenhäusern sein kann und wie wenige Möglichkeiten es gibt, sich als Patient zu wehren, ohne dabei gleich vorverurteilt oder als schwierig abgetan zu werden.
„ ...da kommt vorher eine Provokation"
„Ich will jetzt nicht in Abrede stellen, dass es tatsächlich aggressive Patienten gibt. Aber man muss sich als halbwegs reflektierter Mensch auch die Frage stellen, wer diese Anschuldigung ausspricht und warum jemand vermeintlich aggressiv wird. Wenn das jetzt ein völlig Betrunkener ist, oder eine Person auf Drogen, dann kann ich mir das durchaus vorstellen. Aber ein so genannter ‚normaler Mensch‘ wird nicht ohne Grund aggressiv, da kommt vorher auf jeden Fall eine Provokation, auch wenn das Krankenhauspersonal das vielleicht gar nicht als solche wahrnimmt.“
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Auch die WHO weist darauf hin, dass institutionelle Settings ein erhöhtes Risiko für schadhaftes Personalhandeln darstellen kann. Von schlecht ausgebildetem Personal über fehlende Kontrollen im System, Ignorieren von Bedürfnissen, Zeitdruck etc. gibt es viele Baustellen. In der Praxis gibt es etliche Situationen, in denen Patienten vom Team schnell als aggressiv abgestempelt werden, obwohl sie strukturell provoziert wurden. Hier einige Beispiele:
Eine ältere Person wird beim Waschen grob behandelt. Sie wehrt sich – zu Recht! – und wird anschließend von der Krankenschwester „aggressiv“ genannt. Oder: Ein Patient kommt in die Notaufnahme. Er hat starke Schmerzen, muss stundenlang warten und wird trotz mehrmaliger Nachfrage ignoriert und erhält keinerlei Auskunft. Im Gegenteil: Das Team ist schnippisch und tut seine Nachfrage als nervig und ungeduldig ab. Als er nach Stunden, die er schmerzgeplagt in der Notaufnahme verbringt, die Krankenschwester anschreit, wird die Polizei gerufen, weil der Patient sich „aggressiv“ verhalte. Dass besagter Patient aber stundenlang unter starken Schmerzen sich völlig ruhig verhalten hat und dieses Anschreien nur eine Reaktion auf die unhöfliche Behandlung und die erfahrene Ohnmacht ist, wird außen vorgelassen. Dasselbe gilt auch für medikamentöse Ruhigstellung oder Fixierung. Diese erfolgt oft, ohne überhaupt eine Deeskalation zu versuchen, woraufhin Patienten erst recht eskalieren. Solche Fälle sind keine Einzelfälle, sondern finden sich wiederholt in Untersuchungen zu Auslösern von Gewalt in Kliniken und Pflegeeinrichtungen.
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„Ich habe das ja selbst erlebt. Meistens funktioniert alles gut und es ist sicher auch viel von der Person und der Tagesverfassung abhängig. Ich habe zum Beispiel jetzt nicht die Erwartung, dass ich gleich drankommen muss, oder dass jeder freundlich sein muss oder so. Aber was ich schon beobachtet habe, ist, dass das Problem in der Regel nicht bei den Ärzten, sondern beim Assistenzpersonal im Pflege- und administrativen Bereich liegt. Die sind oft unfreundlich, werden schnell pampig im Ton, wenn ihnen etwas nicht passt. Sie verweigern Patienten Dinge, auf die sie ein Anrecht haben und überschreiten professionelle Grenzen. Sie spielen sich auf so nach dem Motto ‚ICH habe hier das Sagen und ICH bestimme über dich‘. Letzteres habe ich vor allem bei den älteren Krankenschwestern erlebt. Das sind meistens solche Leute, die sonst im Leben nichts zu melden haben und dann glauben, sie können das bisschen Verantwortung, das ihnen übertragen wurde, als Machtspiel ausnutzen. Und wehe du lässt dir das als Patient nicht gefallen, dann bist gleich der Idiot und aggressiv und sonstwas.“
Ausnahmesituationen werden zu wenig berücksichtigtÂ
Die Beobachtungen von Melanie scheinen kein Einzelfall zu sein. Auch bei unserer Befragung wird deutlich, dass der Auslöser für vermeintliche Aggressivität seitens der Patienten in der Regel auf gefühlter Provokation beruht. In der Alltagsroutine scheint man in den Krankenanstalten zu vergessen, dass die meisten Menschen, die medizinische Einrichtungen wie Krankenhäuser aufsuchen, sich in einer Ausnahmesituation befinden, die auch einer entsprechenden Berücksichtigung bedarf.
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„Etliche Male konnte ich beobachten, dass Hygienerichtlinien nicht eingehalten, ja regelrecht ignoriert wurden“, so Petra O. (Name von der Reaktion geändert). „Ich bin Mikrobiologin und arbeite selbst im medizinischen Bereich, ich kenne mich damit aus. Das hat schon bei den Grundlagen angefangen, das war erschreckend. Ich hab dann die zuständige Schwester ganz normal darauf angesprochen und wie die darauf reagiert hat, war einfach nur unprofessionell. Also vom ganzen Team dann auch. Die haben das offenbar sehr persönlich genommen, die Reaktion war wie bei einem kleinen Kind, das gerade einen Trotzanfall bekommt. Ich war dann die ‚Lästige', obwohl ich im Recht war und nur das eingefordert habe, was mir zusteht. Die haben mit ihrem nachlässigen Verhalten meine Gesundheit massiv gefährdet. Wenn du solchen Menschen ausgeliefert bist, kannst dir gratulieren. Das ist ein sensibler Bereich, es geht um die eigene Gesundheit, und wenn man dann an so unprofessionelles Personal gerät, verstehe ich schon, dass manch einer sich das nicht gefallen lässt, das hat nichts mit Aggressivität zu tun, im Gegenteil.“
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„Mein Sohn hat einen Autounfall gehabt. Wir sind angerufen worden und dann gleich hingefahren (ins Krankenhaus, Anm. der Redaktion). Wir haben überhaupt nicht gewusst, wohin, wurden von A nach B geschickt, bis wir endlich da waren. Man hat uns dann ewig nicht sagen können, was mit ihm ist. Und während wir da warten und bangen und Angst haben, da fühlt sich jede Sekunde wie tausend Stunden an, da reißt einem dann schon irgendwann der Geduldsfaden, wenn man nachfragt und die Schwester vom Dienst nur mit den Augen rollt und man blöd angeschnauzt wird so nach dem Motto ‚Hören’s endlich auf zu fragen‘. Die haben da den größten Spaß in ihrem Dienstzimmer, man hört sie bis draußen über irgendeinen unwichtigen Blödsinn reden und lachen, weil sie offensichtlich doch zu wenig zu tun haben. Aber das ist eh immer so. Es heißt, die sind so überarbeitet, aber zum Tratschen und Tschicken (Rauchen, Anm. der Redaktion) ist immer Zeit. Sowas brauch ich nicht. Das empfinde ich schon auch als sehr provokant. Und da hab ich dann auch kein schlechtes Gewissen, wenn ich so jemandem die Meinung sage“, so Werner S. (Name von der Redaktion geändert), dessen Sohn mittlerweile wieder auf dem Weg der Besserung ist.
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„Da hört sich der Spaß auf!"
„Zu wenig Zeit, so viel Stress, das sind doch alles nur Ausreden! Wenn ich sowas höre, wird mir ganz schlecht. Das ist nur der armselige Versuch, die eigene Inkompetenz zu rechtfertigen. Ich kenne niemanden, der keinen Stress in der Arbeit hat. Das ist kein Grund, um unfreundlich zu werden oder seinen Job nicht ordentlich zu machen. Man muss sich nicht jede Frechheit gefallen lassen. In Wahrheit haben die wenigsten Leute im Krankenhaus so eine große Verantwortung. Wenn sie dem Druck nicht gewachsen sind, dann sollen sie sich einen anderen Job suchen. Diese ewigen Ausreden, warum sie irgendwas nicht nach Vorschrift machen können oder warum gerade keine Zeit ist, um freundlich zu sein und so weiter nerven einfach nur. Man geht ja nicht zum Spaß ins Krankenhaus. Dass man sich dort dann auch noch blöd frotzeln lassen kann, ist eine Zumutung. Da hört sich der Spaß auf. Ich hab auch ab und zu den Eindruck gehabt, dass man nur darauf wartet, dass einer aus der Rolle fällt, damit man sich wieder beschweren kann. Also diese Äußerung, dass die Patienten so aggressiv sind und so, das glaube ich nicht. Ich glaube, sie lassen sich einfach nur mehr nicht mehr alles gefallen“, sagt Kathrin G. (Name von der Redaktion geändert).
Die Meinungen von medizinischen Personal und von Patienten klafft in dieser Hinsicht mit Sicherheit auseinander, zumal die Zugangsweise und Wahrnehmung unterschiedlich ist. Dennoch ist man sich einig, dass aggressives Verhalten für beide Seiten unterwünscht ist. Niemand ist gerne aggressiv und niemand ist gerne mit der Aggression einer anderen Person konfrontiert.
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Fakt ist: Es gibt immer mehr Zwischenfälle in Krankenhäusern und medizinischen Einrichtungen, bei denen Aggressivität seitens der Patienten gemeldet wird. Ob die Übergriffe auf medizinisches Personal tatsächlich zugenommen haben, oder nur aufgrund höherer Sensibilisierung und eines besseren Meldesystems öfter gemeldet werden, bleibt dabei fraglich. Zu berücksichtigen ist: Die schnelle Zuschreibung und Vorverurteilung, dass Patienten aggressiv seien, dient in erster Linie zur Entlastung des medizinischen Personals und soll gewisse Maßnahmen, wie Ruhigstellen, Polizei rufen etc., legitimieren. Am Ende führt das jedoch dazu, dass dadurch das Handeln des Personals zu wenig reflektiert wird und Lerneffekte ausbleiben. Ganz zu schweigen davon, dass Patienten stigmatisiert werden. Auch in der Forschung wird empfohlen, Vorfälle, die mit Aggressivität zu tun haben, nicht als reines Patientenproblem zu verbuchen. Es braucht es eine ehrliche Analyse von Situationen, mehr Ressourcen, bessere Ausbildung in Kommunikation und Deeskalation, und ein System, das Gewalt gegen Patienten genauso ernst nimmt wie Gewalt gegen Mitarbeitende.
